Menschen bei uns

»Ich finde es wunderbar, alt zu sein«

, von Denise Ariaane Funke

»Das Lernen hört für mich nie auf. Man kann immer etwas dazulernen« sagt Gisela Gräfin von der Goltz.

Gisela Gräfin von der Goltz blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Die Kriegsjahre verbachte sie in Mainz. Damals hieß sie noch Gisela Wolf. Der Vater war technischer Kaufmann, die Mutter Baltin mit schwedischen Wurzeln. »Nächstenliebe hat mir meine Mutter vorgelebt. Sie war Pastorentochter. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass sie nur zwei Sommerkleider besaß, ein Dirndl und ein anderes. Im Sommer 1945 verschenkte sie das Kleid an eine Flüchtlingsfrau. Meine Mutter trug dann nur noch das Dirndl. Ebenso war es mit einem letzten Stück Seife, das meine Mutter ebenfalls verschenkte«, erinnert sich die heute 85-Jährige. »Das Gute kommt aber immer zurück. Zu Weihnachten bekam meine Mutter dann zwei Seifenstücke – das war damals eine kleine Kostbarkeit.«

Mit dem damaligen Regime tat sich die Mutter schwer. Sie schickte die Töchter beispielsweise an den Sonntagen nicht zum Antreten. Stattdessen waren die Mädchen im Kindergottesdienst. »Ebenso selbstverständlich war es, dass bei uns zu Mittag alle an einem Tisch saßen – auch diejenigen, die es unter dem Nazi Regime nicht gedurft hätten. Das kam bei dem Nachbarn nicht sonderlich gut an, meine Mutter wurde denunziert, weil unsere ukrainische Haushilfe zusammen mit uns am Tisch saß. Meine Mutter musste zur Gestapo, dort musste sie einen Nachmittag lang Kartoffeln schälen«.

Gern erinnert sich die Wahlreinbekerin an ihre Schulzeit zurück. Ich wurde drei Jahre von den sogenannten Englischen Fräulein unterrichtet, einem Frauenorden, der durch die Britin Maria Ward gegründet wurde. »Das waren wunderschöne Zeiten, die Nonnen hatten Zeit für uns, und das in einer Zeit, in der jeder mit anderen Dingen beschäftigt war. Hier musste niemand selbst die Käfer aus den Linsen puhlen. Das erledigten die Hausschwestern, die sich um all diese Alltagsdinge kümmerten, die damals sehr viel Zeit kosteten.«

1948 zog die Familie von Mainz nach Stuttgart. Der Vater hatte dort eine neue Anstellung gefunden. »Ich hätte gern Abitur gemacht. Das war aber leider nicht möglich, da uns dazu das Schulgeld fehlte. Ich habe damals bitterlich geweint. Stattdessen besuchte ich die Handelsschule. Nach einem Jahr war ich staatlich geprüfte Stenotypistin und Kontoristin. So nannte sich das damals – heute sagt mal wohl Bürokauffrau«, schmunzelt sie.

Mit 17 Jahren verliebte sie sich in Heinrich Graf von der Goltz. »Ohne den Krieg hätte ich meinen Mann nie kennengelernt. Wir sind uns in einem Jugendhaus in der amerikanischen Zone in Stuttgart begegnet. Seine Mutter war ebenso wie meine Mutter Baltin.

»Es war eine andere Welt für mich, als ich in seine Familie eingeführt wurde. Ich war sehr unbefangen und naiv. Das hat mir damals sehr geholfen. Heinrich war der einzige Sohn neben fünf Schwestern. Seine Familie war anfangs nicht so angetan von seiner Wahl«, erinnert sich die Gräfin zurück. »Geheiratet wurde dann aber trotzdem und zwar im Jahr 1954 in Reinbek. Ich war damals 20 Jahre alt und brauchte die Einwilligung der Eltern, da ich noch nicht volljährig war.«

1958 zog das Ehepaar dann nach Reinbek. »Die Kriegsjahre, aber auch die Kriege in Korea, am Suez und in Ungarn haben mich geprägt. Ich habe nie Pläne gemacht. Ich habe immer befürchtet, dass es noch einmal “knallt“ und dass ich diesen Krieg nicht überleben würde.«

»Unsere jetzigen Zeiten sehen auch nicht gerade lustig aus«, meint Gisela Gräfin von der Goltz. Die »Friday for Future«-Demonstrationen findet sie großartig. »Es ist wichtig, dass junge Menschen für ihre Zukunft auf die Straße gehen«.

»Ich hätte nicht anders leben wollen. Ich finde es wunderbar alt zu sein«, resümiert sie. »Da kann man dann Dinge aussprechen, die man sich vorher nicht getraut hätte«, sagt die Gräfin, die drei Töchter, fünf Enkel und zwei Urenkel hat.

Gleich mehrere Jahrzehnte war sie ehrenamtlich aktiv. Ab 1974 hat sie sich für die Arbeiterwohlfahrt (AWO) engagiert. »Seit 2006 habe ich mich aus der ehrenamtlichen Arbeit der AWO zurückgezogen. Es gab Zeiten, da war ich 60 Stunden die Woche für das Ehrenamt aktiv«, berichtet sie, die 15 Jahre das Amt der Vorsitzenden innehatte. 18 Jahre war sie für die SPD aktiv, vier Jahre im Kreistag und zwei Jahre als Stadtverordnete in Reinbek.

»Vieles habe ich während meiner verschiedenen ehrenamtlichen Tätigkeiten gelernt. Dafür bin ich sehr dankbar«, sagt die Gräfin.

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