re-view

Wollen Sie das überhaupt?

, von Hartmuth Sandtner

»Stellen Sie sich einen grassierenden Waldbrand vor, und eine Schar von Menschen, die vor der Feuersbrunst davonläuft. ...Schließlich gelangen sie an einen breiten, reißenden Fluss. Niemand weiß so recht, was sie auf der anderen Seite erwartet. Da sind keine Wege, Brücken oder Boote, um ans andere Ufer zu gelangen. Doch irgendetwas müssen sie tun, so viel ist klar. Das Feuer ist schon so nah; hier stehen zu bleiben bedeutet den sicheren Tod. Sie müssen einen Weg finden, um an das andere Ufer zu gelangen, auch wenn es im Augenblick unmöglich und riskant erscheint. Sie haben schlicht keine andere Wahl. Genau da steht die Menschheit heute im Kontext des Klimawandels.«

Dieser Text stammt aus dem aufrüttelnden Buch »F*CK THE System« von Graeme Maxton (Klimaktivist, Ökonom und ehemaliger Generalsekretär des Club of Rome) und seiner Frau Bernice Maxton-Lee. Die Autoren fordern einen »Systemwandel statt Klimawandel«.

Graeme Maxton beschrieb schon 2018 in einem Interview mit SRF-Kultur  (bit.ly/2XyDLsX)  die Kata-strophe, auf welche die Weltbevölkerung in spätestens 8-13 Jahren zusteuert.

Ein ganz anderes Bild versuchte jetzt auf der TED-Klimakonferenz in Edinburgh – wie die süddeutsche zeitung vom 20.10.21 ausführt – der CEO von ‚Royal Dutch Shell‘, Ben van Beurden, zu malen, was die 20jährige Aktivistin Lauren MacDonald auf dem Podium kaum auf ihrem Platz hielt, bis sie nach seiner Rede mit Tränen der Wut in den Augen ihn regelrecht zusammenfaltete (bit.ly/2XwtZaz): »Sie sollten sich schämen… denken Sie daran, dass Shell Millionen dafür ausgegeben hat, die Warnungen von Klimawissenschaftlern zu vertuschen, Politiker zu bestechen und sogar Soldaten zu bezahlen, um nigerianische Aktivisten zu töten, die gegen sie kämpfen. Wir werden nie vergessen, was Sie getan haben, was Shell getan hat.«

Dazu passt, dass auf spiegelonline am 21.10.21 – mit Verweis auf die BBC – die Meldung erschien: Staaten (Saudi-Arabien, Japan und Australien, alle Produzenten fossiler Brennstoffe) und Lobbyverbände sollen, lt. eines Datenlecks, versucht haben, wenige Tage vor der Klimakonferenz COP26 in Glasgow, IPCC-Klimaberichte abzuschwächen (bit.ly/3pqemwZ).

Die Maxtons fordern denn auch in ihrem Buch: »Im neuen Denken müssen diese neoliberalen Lügen gnadenlos entlarvt und für alle Welt sichtbar gemacht werden, gleichzeitig sind jene Menschen vor Gericht zu stellen, die für den Klimawandel verantwortlich sind.« Und sie argumentieren weiter: »Das derzeitige System dient nur den Interessen einer kleinen Gruppe.« Es schließt die Mehrheit der Menschen aus, so ihre These, wobei sie wissen, dass »das, was wir vorschlagen, sehr schwer durchzuziehen sein wird«.Insbesondere deshalb, weil – wie beispielsweise beim Thema Maskentragen in den frühen Stadien der Covid-19-Pandemie zu beobachten war – wir in einer Gesellschaft leben, die einen als »individuelle Freiheit getarnten Egoismus« vor das Wohlergehen anderer stellt. Und zu diesen »Anderen« zählen auch die von den westlichen Staaten kolonisierten Länder. Die Maxtons: »Die koloniale Denke lebt prächtig weiter wie eh und je, nur dass sie heute unter der Bezeichnung “freie Marktwirtschaft“ läuft. ... Indem die reiche Welt auf offenen Märkten beharrt und mittels Geld und Wettbewerb dafür sorgt, dass Unternehmen in armen Ländern nur eingeschränkt in technologische Entwicklung investieren können, bleibt die arme Welt dauerhaft arm.«

»Wenn die Konzentration der Treibhausgase im aktuellen Tempo weiter steigt«, so die Autoren, »wird die Welt Mitte der 2030er-Jahre einen kata-
strophalen Kipp-Punkt erreichen. Sobald dieser Kipp-Punkt überschritten wurde, ist die Erwärmung nicht mehr zu kontrollieren. Die Durchschnittstemperatur wird dann Mitte des Jahrhunderts ihren höchsten Stand seit 10 Millionen Jahren erreicht haben.« Die Folge wird sein: »Die globalen Temperaturen werden über Jahrhunderte stetig und unkontrollierbar steigen. Der Großteil des Planeten wird letztlich unbewohnbar sein, und bis zu 95 Prozent der menschlichen Bevölkerung werden sterben.«

Kann die Weltgemeinschaft das verhindern? Was kann ich tun?

Dazu führen die Maxtons gleich zu Anfang aus: »Der einzelne  Mensch allein kann nichts tun. ... Um eine Katastrophe zu verhindern, müssen nahezu alle Menschen ihre Lebensweise umstellen, und das dringend, ob es gefällt oder nicht.« Dabei taucht in den Köpfen der Menschen sofort das Wort Verzicht auf. Dazu stellte jetzt Kathrin Hartmann, Buchautorin von »Grüner wird‘s nicht: Warum wir mit der ökologischen Krise völlig falsch umgehen.«, in einem Beitrag für die Süddeutsche vom 23.10.21 berechtigt die Frage: »Sind gesellschaftliche Veränderungen, die unser aller Lebensgrundlagen schützen, wirklich als Verzicht zu betrachten? Stehen uns denn Dinge, deren Produktion und Nutzung zwangsläufig mit Leid und unumkehrbarer Zerstörung verbunden sind, überhaupt zu?« Sie zitiert dazu Stephan Lessenich, den Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung: »Es ist ein Unwort für das, worum es eigentlich geht«. Der Begriff werde ausschließlich individuell gedeutet, nicht kollektiv, er werde nur auf den Konsum bezogen, nie auf die Produktion. »Dabei können wir«, so Lessenich, »als Gesellschaft einen Konsens darüber finden, was wir wirklich brauchen und was nicht, und worauf wir gemeinsam verzichten wollen«. Etwa darauf, Menschen auszubeuten, Natur zu zerstören und Leben zu vernichten – dafür können wir demokratische Regeln aufstellen«.

Auch die Maxtons fordern eine »globale Debatte über die Werte, auf denen eine nachhaltige Gesellschaft aufbauen sollte.« Dazu gehört: Klimawandel muss in jeder Disziplin in den Lehrplan aufgenommen werden. »Wir Menschen haben die Pflicht, eine lodernde Fackel vor uns herzutragen, die den vor uns liegenden Weg so hell erleuchtet, dass ihn alle deutlich sehen können«. Wir müssen »Netzwerke rund um all jene aufbauen, die wirklich den Durchblick haben.« Die Maxtons notieren: »Verinnerlichen Sie die Fakten. Nutzen Sie die Macht der Sprache. Behalten Sie das Ziel im Auge und lassen Sie sich nicht entmutigen«.

Zum Ende noch ein wichtiger Satz aus dem Buch, das leider keinen besseren Titel hat, »Technologie. Wird. Uns. Nicht. Retten.« Und: »Die Menschheit hat weniger als 15 Jahre Zeit, um eine vom Klimawandel ausgelöste Kettenreaktion zu verhindern.« –

Können Sie sich hineinversetzen in die Situation, wir alle stehen an diesem Fluss?

Und wollen Sie das überhaupt

Mehr zum Thema