re-view

Wo man immer Bäume gefällt hat, fällt man Bäume

, von Hartmuth Sandtner

Über die Schlagzeile »Nichts muss sich verändern – das ist unsere Lebenslüge«, fiel ich beim Lesen im der Freitag vom 28.10.21 über ein Interview mit Harald Welzer, Leiter der Stiftung Futurzwei (futurzwei.org). Der Soziologe und Sozialpsychologe an der Europa-Universität in Flensburg hat ein Buch über das Aufhören geschrieben. Für Welzer ist der Klimawandel ein Endlichkeitsproblem: »Wenn wir eine bestimmte Spanne einer überlebenstauglichen Temperatur verlassen, dann kommt die menschliche Lebensform an ihr Ende… Aber unsere Kultur blendet Endlichkeit systematisch aus: Wir haben kein Konzept von Endlichkeit, wir lernen nicht aufzuhören, sondern wir optimieren«, so Welzers Diagnose.

Darum werden wir mit der Logik des permanenten Immer-mehr die Endlichkeitsprobleme nicht bewältigen können. Schon Ludwig Erhard habe vor 60Jahren von den Ökonomen gefordert, dass sie sich »mittelfristig darüber Gedanken machen sollten, was nach dem Hyperwachstum kommt«.

Ein Problem auf dem Wege dahin ist der »Wagenheber-Effekt« (engl.: ratchet effect). So benannt von dem US-Anthropologen Michael Tomasello, womit dieser den Mechanismus der Kulturelle Vererbung beschreibt. Die neue Generation fängt nie von vorne an, sondern immer auf der Höhe, wo die vorangegangene Generation angelangt ist. «Wenn nun die kulturelle Entwicklung eine falsche Richtung eingeschlagen hat, wenn sie nicht lebensdienlich war, wenn uns die überkommene Kultur beispielsweise vermittelt hat, dass man immer alles haben kann, und dass wir auch gar nicht darüber nachdenken müssen, wo das alles herkommt, dann geht das ganze ein paar Generationen so weiter, und es bleibt lange unerkennbar, dass die Entwicklungsrichtung ohne Zukunft ist.«, erzählt Harald Welzer in seinem Hörbuch »Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens« –

»Eine Kultur, die wie unsere ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert«  – das ist für Welzer klar – »muss ein Irrtum sein.« Dass man es immer schon so gemacht hat – Entwaldung, Bodenerosion, Überfischung – dass es sich in Bräuchen und Gesetzen in der kulturellen Praxis festgeschrieben hat, erschwert die Erkenntnis. Welzer: »Es fehlen die Referenzpunkte.« Wo man immer Bäume gefällt hat, fällt man Bäume. Wo man immer mehr produziert hat, produziert man immer mehr. »Weil wir keine Methodik des Aufhörens haben, hören wir auch nicht auf.«

Und Welzer weiter: »Es braucht einen kollektiven Lernprozess, der vor allem durch Lernen aus Fehlern vorangetrieben werden kann.«  Dafür listet er auf: Das autonom fahrende Auto, ist für ihn ein Fehler, weil es den Individualverkehr fortschreibt. Die Digitalisierung von Infrastrukturen ist ein Fehler, weil es die Verletzlichkeit der Infrastrukturen erhöht. Die Externalisierung von Kosten ist ein Fehler, weil es andere für Zerstörungen aufkommen lässt, von denen man selbst profitiert. Das Streben nach Kosteneffizienz – ein Fehler – weil das Resilienz verhindert. Die Homogenisierung von Kultur – ein Fehler – weil es die größte soziale Produktivkraft, nämlich Differenz, zerstört. Fehler sind aber für Welzer kein Grund, Schuldige zu suchen, sondern Anlässe, Dinge besser zu machen.

»Eigentlich«, so Welzer, »müssten moderne Gesellschaften Nachrufe auf sich selbst schreiben, in denen sie entwerfen, wie sie sich entwickelt haben werden wollen.« Das hört sich grammatisch schwierig an, meint Welzer, »aber so eine Rückschau aus einer imaginierten Zukunft, bricht die Diktatur der Gegenwart, in der zu viele Entscheidungen aus dem kulturellen Unbewussten heraus getroffen werden. Und es bricht den horizontlosen Katastrophismus, in dem wir uns kulturell eingerichtet haben, weil wir fürchten, dass die Zukunft auf jeden Fall schlechter ist als die Gegenwart.«

Dafür sollte – so Welzer – »jede und jeder einen Nachruf auf sich selbst schreiben. Darüber, wie sie oder er gelebt zu haben hofft, wenn er noch lebt. Damit würde man sich selbst verpflichten, so werden zu sollen, wie man gewesen zu sein gehofft hatte«.

Und er gibt ein Beispiel und benennt 15 Themen. Er beginnt mit dem Wunsch, in seinem Nachruf möge stehen: Er konnte gut Zeit verschwenden. Und sein Nachruf solle enden mit dem Satz: Er hatte gelernt, keine Angst vor dem Tod zu haben.

*Welzer: »*Als Individuum kommt man um dieses Lernen nicht herum, auch wenn man sich noch so sehr dagegen sträubt. Als Gesellschaft verfügen wir über eine riesige ausgebaute und höchst komplexe Apparatur, um dieses Lernen um jeden Preis zu vermeiden. Als Kultur haben wir kein Konzept unserer eigenen Endlichkeit. Der Tod ist keine kulturelle Kategorie, gesellschaftlich gibt es ihn gar nicht.« Dieser Sachverhalt hat für Welzer viel mit dem Unvermögen zum Aufhören zu tun.

Welzer gibt zum Schluss des Buches den Lesern ein paar Merksätze an die Hand, »denn aufhören zu können braucht Können«: »Die Zeit der Veränderung ist die Gegenwart, nicht die Zukunft. Ziele sind keine Handlungen. Der Raum der Veränderung ist innerhalb, nicht außerhalb unserer Grenzen.«

»Wenn wir nicht aufhören können«, so Welzers Fazit, »können wir mit Endlichkeitsproblemen wie dem Klimawandel oder dem Artensterben auch nicht fertigwerden.«

Mehr zum Thema