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»An den Mauern der Untätigkeit staut sich der Wahnsinn.«

, von Hartmuth Sandtner

Beim Weltklimagipfel in Glasgow haben sich täglich 14 Tage lang im Messezentrum zwischen 30’000 und 40’000 Menschen durch die Hallen geschoben. Und was war das Ergebnis? Ein »Greenwash- und Bla-bla-bla-Festival«, um es mit Greta Thunberg zu sagen und ein weinender COP26-Präsident Alok Sharma. Wir wissen, dass Jutebeutel und Pappstrohhalm uns nicht retten, wie Guardian Journalist und Klimaaktivist George Mobiot in einem doppelseitigen – sehr lesenswerten – Beitrag im der freitag vom 11.11.21 beschreibt (bit.ly/3CE49QH; leider Paywall).  Mobiot: »Wir reden uns ein, das Ganze sei nicht so schlimm oder passiere gar nicht. Wir verdoppeln unsere Zerstörungswut, tauschen normale Autos gegen SUVs, jetten mit einem Langstreckenflug ins Land des Vergessens und verbrennen alles in einem letzten großen Rausch.« Dabei wissen wir, dass – egal, ob es sich um ein Bankennetzwerk oder um das Lebensnetz des Planeten oder um Corona handelt – sich ein komplexes System nach bestimmten mathematischen Regeln verhält. Aber was passiert? ZEIT-Chef Bernd Ulrich fasste es im Interview mit Jakob Augstein im der freitag vom 4.11.21 (bit.ly/3qWDMDl) in einem Satz zusammen: »An den Mauern der Untätigkeit staut sich der Wahnsinn«.

»Die große politische Veränderung der vergangenen 50 Jahre ist,« so Mobiot, »dass wir unsere Probleme nicht mehr kollektiv angehen, sondern individuell. Wir wurden von Bürger:innen zu Konsument:innen gemacht [...] Als Bürger:innen, die sich zusammentun und politischen Wandel fordern, sind wir mächtig – als Konsument:innen nahezu machtlos.«

Ein Weg weg von Konsumenten hin zu mündigen, intelligenten Bürgern, wurde jetzt bei der Installation eines ersten deutschen bundesweiten Bürgerrats beschritten (Was ist ein Bürgerrat? Siehe: bit.ly/3oH6eWM). Unter der Überschrift »Wende von unten« berichtet Anika Limbach im der Freitag vom 4.11.21 (bit.ly/3cw8J8Q) über seine Ergebnisse und schreibt: »Ginge es nach dem Plan des „Bürgerrats Klima“, würden wir das 1,5-Grad-Ziel locker schaffen.« Irland und Frankreich haben den Bürgerrat vorgemacht, die Scientists for Future (scientists4future.org) haben gefordert, ihn noch vor den Bundestagswahlen in 2021 durchzuführen. Organisiert wurde das Projekt vom Verein BürgerBegehren Klimaschutz (buerger-begehren-klimaschutz.de) zusammen mit einer Trägerschaft zahlreicher Organisationen. 160 Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren, ausgewählt nach Alter, Geschlecht, Wohnort, Bundesland, Bildungsstand und Migrationserfahrung von zwei mit der Durchführung beauftragten erfahrenen und unabhängigen Instituten, diskutierten gemeinsam über mögliche Maßnahmen zum Umgang mit der Klimakrise. Über 25 führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Klima- und Gesellschaftswissenschaften hatten vorher bei der Schwerpunktsetzung und der Auswahl der Themen mitgewirkt. Ein breit gefächertes wissenschaftliches Kuratorium bestimmte die Experten, die den Prozess engmaschig begleiteten, während der Beirat auf die inhaltliche Ausgewogenheit achtete.

Die zu klärende Frage war: Wie kann das Pariser Klimaabkommen in Deutschland eingehalten werden? Anika Limbach*: »*Ausgehend von dieser Fragestellung entstand so in zwölf Sitzungen per Zoom [...] ein durchaus erstaunliches Bürgergutachten mit 77 Handlungsempfehlungen für die Bereiche Energie, Mobilität, Ernährung, Gebäude und Wärme. Es bestätigt, was vorher schon in Umfragen zu erkennen war: Die Bevölkerung ist weiter als die Politik und zu Klimaschutz viel mehr bereit, als ihr oft angedichtet wird.«

Wie Anika Limbach weiter ausführt, wurde das Projekt mit der gemeinsamen Entwicklung eines positiven Bildes von der erwünschten Zukunft Deutschlands im Jahr 2035 begonnen. »Bezahlbarer Wohnraum, attraktiver öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), faire Lebensmittelpreise und 100 Prozent erneuerbare Energien gehörten genauso dazu wie eine sozial-ökologische Wirtschaft, ein starkes Gemeinwesen, begleitet von einem kulturellen Wandel, bei dem die Menschen lernen, genügsamer, solidarischer und zufriedener mit weniger Arbeit zu leben. Aus der Vision entstanden zehn übergeordnete, mit großer Mehrheit verabschiedete Leitsätze. Sie enthalten Forderungen wie die, Klimaschutz als Menschenrecht im Grundgesetz zu verankern, dem 1,5-Grad-Ziel oberste Priorität einzuräumen, wirtschaftliche Interessen und Einzelinteressen dem Schutz des Planeten unterzuordnen sowie die Klimawende sozial und global gerecht zu gestalten.«

Bei der Arbeit wurde, wie eine Teilnehmerin im der Freitag zitiert wird, »zunehmend erkannt, dass Verbote manchmal notwendig sind, um eine positive Entwicklung zu erreichen – oder um zu verhindern, dass wir in Zukunft auf noch viel, viel mehr verzichten müssen.«

So kann Anika Limbach zusammenfassend feststellen, dass sich im Bürgergutachten »klare Regeln für alle Bereiche, Ebenen und Akteure« finden. »Sie reichen von einem generellen Tempolimit, dem geregelten Auslaufen von Verbrennermotoren, Öl- und Gasheizungen, einem neuen Landwirtschaftsgesetz, der Eindämmung von Überproduktion und Verschwendung im Ernährungsbereich, der Pflicht zu Solardächern und zur Langlebigkeit von Elektrogeräten bis hin zu verpflichtenden Rahmenbedingungen für die Beschleunigung der dezentralen Energiewende und dem massiven Ausbau von ÖPNV und Radwegen. All dies soll Vorrang vor den Kosten haben.«

»Die Lenkung über das Finanzielle«, betont Anika Limbach, »spielt dennoch eine große Rolle, verbunden mit sozialem Ausgleich und Preisen, die die wahren Klimakosten abbilden. Beispielsweise soll der CO-Preis mit einer Klimadividende für Bürger:innen einhergehen.«

Die oben schon erwähnte Teilnehmerin aus dem Bürgerrat, »erlebte in ihrer Arbeitsgruppe, dass letztendlich alle bereit waren, zugunsten des Klimas in Zukunft ihre Ernährungsgewohnheiten zu verändern. »Nur deshalb war es möglich«, so Anika Limbach, »die völlige Umstrukturierung der Landwirtschaft bis 2030 einschließlich einer erheblichen Reduzierung der Nutztierbestände in das Gutachten aufzunehmen.«

»Wie viele der Vorschläge die neue Regierung aufgreifen wird, bleibt abzuwarten«, beendet Anika Limbach ihren Beitrag. Aber sie kann berichten, dass »Grüne und SPD grundsätzliches Interesse am Bürgergutachten« signalisierten. Dabei sieht sie die Gefahr, »dass es nur als Feigenblatt dienen wird.«

»Es gibt Schnittmengen zwischen den ersten Sondierungsergebnissen und den Empfehlungen des Bürgerrats Klima. Es kommt aber auf die Details an«, zitiert sie Rabea Koss, Sprecherin des Bürgerrats.

Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler ist Schirmherr des ersten deutschen Bürgerrats Klima.Er sagt: »Wenn Deutschland die Pariser Klimaziele erreichen will, ist eine große gesellschaftliche Veränderungsbereitschaft von Nöten. Darum ist es so wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger an der Suche nach Lösungen beteiligt werden und dass die Politik ihre Vorschläge ernst nimmt.«

Wir alle können dazu beitragen, dass Bürgerräte bei uns an Bedeutung und Kraft gewinnen.

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