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Das Thema juckt uns nicht

, von Hartmuth Sandtner

In einem 3-seitigen Beitrag von Rainer Stadler präsentiert die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 22.1.2022 (bit.ly/3IDhyvr) unter dem Titel »Pflegebedürftig« eine detaillierte und gleichzeitig bedrückende Darstellung der Pflegesituation in Deutschland. »Der Personalmangel in den Heimen und die kräftezehrenden, desillusionierenden Arbeitsbedingungen«, schreibt Stadler, »sind seit Jahrzehnten bekannt. Regelmäßig dringen Skandale aus Pflegeheimen an die Öffentlichkeit, in denen einige wenige viel verdienen und sehr viele verzweifeln und leiden.« Zwar erhöhte sich der gesellschaftliche Stellenwert des Berufsstandes während der Pandemie, was aber nicht die Arbeitsbedingungen verbesserte. Lt. einer Umfrage überlegen 40 Prozent, aus dem Beruf auszusteigen. Der Grund: Arbeitsbelastung und Bezahlung stünden in keinem Verhältnis (eine Altenpflegekraft mit drei Jahren Ausbildung verdient durchschnittlich 3200 Euro pro Monat).

In der Hälfte der Einrichtungen ist Gewalt gegen Pflegebedürftige ein Problem, schätzt das Berliner Zentrum für Qualität in der Pflege (www.zqp.de). »Nicht die Pflegenden sind kriminell, die Bedingungen sind es«, überschrieb der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (www.dbfk.de), eine Resolution. Das war im Jahr 2002. Die Bedingungen haben sich seitdem nicht verbessert. Der Ethikkodex […] fordert Pflegekräfte auf, »zu einem ethisch verantwortlichen Arbeitsumfeld« beizutragen und sich »gegen unethisches Handeln und unethische Rahmenbedingungen« zu engagieren. Aber wie Rainer Stadler auch weiß: »Gewerkschaften und Berufsverbänden ist es bisher nicht gelungen, kritische Mitarbeiter zu schützen.«

Die jährlichen Kontrollen durch die Heimaufsicht fallen – wie viele Pflegekräfte und auch Heimleiter aus verschiedenen Regionen Deutschlands berichten – oft oberflächlich aus. Und der Medizinische Dienst der Krankenkassen, der seit einigen Jahren die Qualität der Heime bewertet, bezieht sich dabei auf die Angaben der Heime. Ein weiteres grundsätzliches Problem der Heimkontrolle sieht Rainer Stadler darin, »dass viele Menschen in Heimen überhaupt keinen Besuch erhalten. […] Außerdem wird die Situation in vielen Familien oft getrübt, zum Beispiel durch Erbstreitigkeiten oder ein schlechtes Verhältnis zwischen Kindern und Eltern.«

Und es gibt noch eine weitere Problematik, auf die Stadler aufmerksam macht: »Ein Heimplatz für Bewohner mit Pflegegrad 5 […] kostet etwa 4000 Euro. Daraus wird deutlich: Betreiber und Träger von Heimen haben ein wirtschaftliches Interesse daran, dass sich der Zustand ihrer Bewohner jedenfalls nicht verbessert, sonst gehen Einnahmen verloren. Experten wie die Dortmunder Pflegewissenschaftlerin Angelika Zegelin beklagen seit Langem, Bewohner würden in Heimen allzu oft nicht in ihrer Mobilität und Selbstständigkeit gefördert, sondern »in die Betten gepflegt“.«

Der Markt für Pflegeimmobilien brummt. Stadler: »Aus der ganzen Welt fließt Geld in deutsche Altenheime, die zuverlässig Renditen von vier, fünf Prozent abwerfen oder noch mehr. Derzeit entstehen in Deutschland etwa 500 neue Pflegeheime. Laut einer Studie beliefen sich die Kosten für Pflege in Deutschland 2021auf rund 49 Milliarden Euro, 2030 sollen sie bereits bei 59 Milliarden liegen. Der »Barmer-Pflegereport 2021« (bit.ly/3H0zeAQ) sieht die Zahl der Pflegebedürftigen von heute 4,1 auf sechs Millionen im Jahr 2030 wachsen.

»Die Pflege muss endlich die Wertschätzung bekommen«, sagte kürzlich Claudia Moll, Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, »die sie verdient. Pflegekräfte müssen sie […] auf dem Gehaltszettel spüren.« Ähnliches hat schon 1988 die ÖTV gefordert. Nur: Die Löhne zahlen die Arbeitgeber. Über ihre Höhe verhandeln die Tarifparteien. Letztes Jahr hatten sich Arbeitgeberverband BVAP und die Gewerkschaft Verdi geeinigt, aber die Caritas wollte ihre Autonomie behalten, die kirchliche Einrichtungen für sich in Anspruch nehmen. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek sieht eine »humanitäre Katastrophe« auf Deutschland zurollen. Lt. »Barmer-Pflegereport« werden bis 2030 mehr als 180.000 Pflegekräfte fehlen.

Auch auf die Arbeitsbedingungen hat die Politik nur begrenzt Einfluss. Rainer Stadler: »Sie sind in vielen Heimen schlecht, weil es zu wenige Pflegekräfte gibt und die Zahl der Pflegebedürftigen zunimmt. Das schreckt junge Menschen von dem Beruf ab, auch ausländische Pflegekräfte, die hochmotiviert extra nach Deutschland ziehen und dann vor Deutschlands miesen Arbeitsbedingungen wieder fliehen.« Hinzu kommt, dass nach der Reform der Pflegeausbildung, wonach Pflegekräfte für Kinder, Kranke und Alte gemeinsam unterrichtet werden, Fachleute befürchten, »dass der Nachwuchs dann erst recht die Altenpflege meiden könnte. Die Aussicht, an der Seite von Ärztinnen und Ärzten in einer Klinik zu arbeiten, sei für viele junge Menschen leider attraktiver.«

Claus Fussel (69), Sozialarbeiter, der die Missstände in der Pflege seit 40 Jahren akribisch protokolliert, bekannt von Talkshows bei Illner und Maischberger, sieht die Pflege als »eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht wegdelegiert werden« kann. Aber: »In der Hierarchie des Mitgefühls stehen die Alten ganz am Ende« (Mehr: bit.ly/3sdqWiQ). Und wie Annemarie Fajardo vom Deutschen Pflegerat feststellt, »befassten sich die meisten Menschen überhaupt nicht mit Fragen des Alterns und Sterbens. »Wer nicht selbst betroffen ist oder jemanden in der Familie hat, den juckt das Thema nicht. […] die Gesellschaft hat verlernt, damit umzugehen.« Und Pflegekräfte können das Land nicht lahmlegen, wie Lokführer es tun, resümiert Rainer Stadler.

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