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»Hätte ich genug Einsicht gehabt«, um Nein zu sagen?«

, von Hartmuth Sandtner

Theresa Hein fragt am 7. Oktober in ihrem Beitrag »Ey, Alter« im Internetmagazin republik.ch: »Wann sind wir nicht mehr jung? Wann sind wir alt? Ist man jung, solange man Eltern hat?« – »Das Altwerden geht im Leben sofort los, mit dem ersten Schrei, am Ende der Reise ist man alt.«, schreibt Harald Martenstein in seinem Beitrag »Wie kann einen dieses wunderbare Leben jemals satt machen?« im ZEIT-Magazin Nr. 1/23. Beide Autoren kreisen in ihren Gedanken um die Themen Alter und Verantwortung.  Für Hein ist es die Frage, was macht das Leben mit mir, wenn es mich hinausführt über mein Ich. Für Martenstein ist es die Frage: »Hätte ich damals, als Mensch des Jahrgangs 1913 zum Beispiel, genug Mut und genug Einsicht gehabt, um Nein zu sagen?«

Für die meisten Jugendlichen in Europa, so Theresa Hein, bedeutet der 18. Geburtstag, »selbstermächtigt zu werden«, ein Tag der »Verheißung, bis man begreift, dass Erwachsen-werden ein von Versuch und Irrtum gekennzeichneter Prozess ist.«  Auf der Lebensreise gibt es Orte, die man gerne anfährt, aber auch Stationen, die man zu vermeiden sucht. Hein sah dieses Jahr das erste Mal zwei Diagramme, vor denen sie sich lange gehütet hatte: Die Chance, schwanger zu werden, sinkt für Frauen ab Mitte 30 kontinuierlich, gleichzeitig steigt die Chance einer Fehlgeburt an. An dem Tag, an dem Hein die Kurve Lebensalter/Schwangerschaft gesehen hatte, berichtet sie, »nahm sie abends einen Mozzarella aus dem Kühlschrank, sah reflexhaft aufs Haltbarkeits-datum und fühlte sich dem Käse seltsam verbunden.« Sie ist 33.

»Altwerden ist ein Naturprodukt, also eindeutig bio. Aber die meisten Menschen reden nicht gern darüber«, weiß Martenstein, gerade 70 geworden. »Solange ich aufpasse und nicht versehentlich in den Spiegel schaue, fühle ich mich genauso wie mit vierzig.« Dass er mit diesem Gefühl vielleicht gar nicht so falsch liegt, erinnert mich an das glückliche Gesicht einer guten Freundin, die gerade ihren 65. Geburtstag gefeiert hatte und strahlend von einem Experiment berichtete. Durch DNA-Methylierung mit Hilfe eines epiAge Tests (https://www.epi-age.de/blog) hatte sie ihre Epigenetische Uhr – ein biochemischer Test anhand einer Körperflüssigkeit – ablesen lassen und erfahren, dass sie zwar chronologisch gerechnet 65 sei, aber die Biologische Uhr nur 51 Jahre anzeige. Übrigens auch die TK-Versicherung (s. tk.de) ermuntert ihre Kunden: »Drehen Sie an Ihrer biologischen Uhr!« Folgst Du diesem Tipp kann es Dir vielleicht passieren wie kürzlich Theresa Hein, deren 4-jährige Nichte sie fragte, wie alt sie denn sei. Sie ließ sie raten und bekam zur Antwort: »Eh, hundert?« Du könntest dann in Dich hineinlächeln und an die 51 denken.

Denn »Spätestens mit sechzig geht es mit dem Altwerden ja allmählich los«, ist Martensteins Erfahrung. »Der Ruhestand wartet in Sichtweite, der Fernseher wird zum ersten Mal lauter gestellt, und der Arzt verordnet zum ersten Mal Blutdrucksenker. Mit siebzig spüren die meisten trotzdem immer noch wenig von den echten Beschwerden des Alters. Siebzig findet vor allem im Kopf statt.« Der »richtig harte Teil« kommt, nach seiner Beobachtung, in der Regel ab achtzig.

Eine sehr anschauliche Beschreibung dessen, was da auf einen zukommt, habe ich in dem Essay »Alter« bei Michel de Montaigne (1533-1592) gefunden: »Manchmal ist es der Körper, der sich zuerst vom Alter geschlagen gibt, manchmal aber auch der Geist; und ich habe Menschen genug gesehen, denen das Gehirn noch vor dem Magen und den Beinen schwach wurde; und gerade weil dieses Gebrechen, der, den es befällt, kaum verspürt und es sich nur dunkel zu erkennen gibt, ist es umso gefährlicher.«

Heute scheint die Bedrohung – hört man Martenstein zu – woanders zu liegen: »Das, was mich an der Gegenwart am meisten abstößt, ist die weitverbreitete Gnadenlosigkeit. Um einen so aggressiven Moralismus zu vertreten, wie er heute üblich ist, muss man seiner eigenen Vortrefflichkeit schon sehr sicher sein. Man muss vollkommen frei sein von Demut, und das ist eine andere Freiheit als meine.« Ist die Intoleranz das Privileg oder die Bürde jeder neuen Generation? »Zumindest scheint es doch so«, meint Theresa Hein, »als sei das «Altwerden«, oder vielmehr das «Alter«, das Sich-zum-Alter-Bekennen, verknüpft mit einer zwischen-menschlichen Dimension. Wo das Entscheidende in der Verantwortung liegt, die wir für einen anderen Menschen übernehmen.« Und diese Verantwortung geht über den Tod hinaus. Denn »Es ist unmöglich, vom Alter zu sprechen, ohne vom Tod zu reden«, bringt Martenstein den »richtig harten Teil« in die Betrachtung zurück. Dabei denkt er vor allem an die, »die ich mitnehmen muss, weil nur noch ich mich an sie erinnere. Solange ich lebe, gibt es diese Menschen und diese Bilder noch, danach nicht mehr.« Und dann ist für Martenstein da noch die Frage von oben: hätte er »genug Einsicht gehabt«, um Nein zu sagen? »Das ist die Frage meines Lebens, die mich nie losgelassen hat und die ich mit ins Grab nehme.«

Hartmuth Sandtner

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