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»Sie lieben ihr Land und sie hassen, was daraus geworden ist.«

, von Hartmuth Sandtner

Unter der Überschrift »Die Heimatgebliebenen« berichtet Silke Bigalke in der Süddeutschen Zeitung v. 26.8.23 auf drei Seiten von der Lebenssituation von fünf russischen BürgerInnen, die trotz regierungsoppositioneller Haltung bisher im Land geblieben sind. Im Laufe vieler Monate fragte sie Kirill Gontscharow, Alisa Gorschenina, Oleg Orlow, Wladimir Bilijenko und Lida Moniawa in vielen Gesprächen, am Telefon und persönlich, in Moskau und weiter weg, was hält sie zu Hause, was hält sie am Leben. Ich denke, angesichts der Nachrichtenflut in den Medien zur Ukraine sind wir es Russland und seinen Menschen schuldig, ihren Alltag, ihre Gedanken, Hoffnungen und Argumente zu kennen – auch wenn es nur wenige Stimmen sind – weil  sie unsere Weltsicht schärfen.

Kirill Gontscharow (31) ist seit 14 Jahren Mitglied bei Jabloko, der liberalen Oppositionspartei. 2003 hatte sie noch 4 direkt gewählte Vertreter in der Duma. Seit 10 Jahren keine mehr, obwohl die Partei Zulauf habe. Das Gespräch mit Kirill ist für Silke Bigalke eines von vielen in den vergangenen anderthalb Jahren. Sie trifft ihn häufig dort, wo sich kritische Moskauer noch gefahrlos versammeln können. Anfangs hat er gedacht, es ist unmöglich hierzubleiben. »Wenn du ausreist«, habe der alte Parteichef gesagt, »dann ist dein Lebenswerk zerstört.« Es ist dieser Satz, der Kirill in Russland festhält. »Vielleicht ist es für mich auch leichter, eingesperrt zu werden – Ich weiß nicht. Ich bin verwirrt.« Er gehört zu den Kriegsgegnern, die bleiben wollen – Oppositionelle, Anwälte, KünstlerInnen, Menschenrechtler.

Alisa Gorschenina (29) folgen auf Instagram 98000 Menschen. Im März 2023 eröffnete sie eine Ausstellung in Moskau. Ein russischer Exil-Journalist hätte geschrieben, Russland sei jetzt »die Nation, die ein neues Übel entfesselt hat«. Welche Nation, fragt die Künstlerin in ihrer Küche. In Russland lebten schließlich 190 verschiedene Völker. Russland verlassen? »Ich habe so ein blödes Verantwortungsgefühl«, sagt sie, je mehr Menschen ausreisen, desto »mehr wachse ich da rein«. Irgendwer müsse doch bleiben, sagt sie, »wenn viel Fürchterliches passiert, muss jemand dagegenhalten. Von außen sehe ihr Land aus wie »ein Dämon, wie furchtbar kochende Lava, wie der Teufel«. Drinnen sehe man auch andere Facetten. Sie besucht inzwischen einen Psychologen, um nicht in ein Loch zu fallen.

Seit 34 Jahren arbeitet Oleg Orlow (»Ich möchte in Russland leben und sterben.«) für die Menschenrechtsorganisation Memorial. Zwei Monate vor Kriegsbeginn ließ der Kreml sie verbieten. Verschwunden ist sie nicht. Oleg hat einen Kommentar für eine französische Internetzeitung über den »blutigen Krieg« Putins geschrieben. Ihm drohen jetzt drei Jahre Gefängnis. Ausreisen will er keinesfalls, seine Arbeit ist ihm zu wichtig.  Wenige Wochen später steht er dann vor Gericht, im hellblauen Anzug. Als er es verlässt, applaudieren die Wartenden. Als er alle Hände geschüttelt hat, zündet er sich vor dem Gerichtsgebäude eine Zigarette an. »Ich werde doch noch ins Gefängnis gebracht«, sagt er lächelnd. »Aber wenn man kämpft, spürt man Adrenalin.« Silke Bigalke: »Für einen Moment wirkt er wie der freieste Mensch in Russland.«

Seit 23 Jahren arbeitet Wladimir Bilijenko aus Lipezk als Anwalt, Fachgebiet Familienstreitigkeiten und Wirtschaftsstraftaten. Vor zwei Jahren übernahm er seine ersten politischen Fälle. Es zerfrisst ihn, dass er vor Gericht keine Chance mehr hat. Als Verteidiger könne er oft nur noch »palliative Hilfe« leisten, etwa indem er seine Mandanten im Gefängnis besucht. Das helfe ihnen wenigstens »psychologisch und moralisch«. Wie es in russischen Gefängnissen aussieht, weiß er besser als andere. Blumen werden in Lipezk jetzt in Z-Form in die Beete gepflanzt, der Buchstabe signalisiert Unterstützung für die russische Armee. Es gäbe auch deswegen wenig Strafverfahren, »weil die Menschen die Botschaft der Behörden verstanden haben: abwarten und stillhalten. So bleiben alle frei«.

Für Lida Moniawa in Moskau geht es mehr als um ihre Freiheit. Die 35-Jährige leitet ein Hospiz für Kinder. Vor zehn Jahren hat sie das »Haus mit Leuchtturm« gegründet. Die Idee hatte sie als Schülerin, als sie freiwillig in einem Krankenhaus für Krebspatienten aushalf. Sie kritisiert offen den Krieg und weiß, dass sie dafür eingesperrt werden könnte. Sie bleibe, weil sie in Moskau einen größeren Unterschied machen könne als im Ausland, sagt sie. Es gebe in Russland keine Sonderschulen, keine speziellen Krankenhäuser, keine sozialen Dienste oder Pfleger, die zu den Familien nach Hause kommen wie in Deutschland. »In Russland ist das Hospiz das Einzige, das sie haben. Der Rest der Welt ist aggressiv.« Sie sagt: Im Hospiz helfe sie Menschen durch die schwierigste Zeit ihres Lebens. Und jetzt erlebe die russische Gesellschaft gerade ihre schwierigste Zeit.

Silke Bigalke: »Alle fünf haben dasselbe gesagt: Dass es ihre Pflicht sei, die Dinge in Russland besser zu machen, es wenigstens zu versuchen. Oft schwang auch Zweifel mit, ob sie das Richtige tun. Viel ausrichten könnten sie in Russland derzeit nicht.« »Wer gehe«, sagt Kirill Gontscharow, »der habe in einer für unsere Gesellschaft schweren Zeit beschlossen, nicht dabei zu sein. Welches Recht hätte er denn, die Menschen in Russland zum Protest aufzurufen, wenn er selbst nicht mehr da ist?«

Hartmuth Sandtner

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