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»Wer will ich sein in dieser Welt?«

, von Hartmuth Sandtner

»Das sind Kriminelle, ganz einfach«, sagt der den Lesern im hamburger abendblatt vom 1.8.23 über dieser Headline ganz unbekümmert (oder frech? Wie Weigel?) entgegen grinsende Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther über die Aktivisten der Letzten Generation. Angesichts junger Menschen, die sich um ihre Zukunft sorgen. Der mehrfach ausgezeichnete Philosoph und Fernsehmoderator Gert Scobel vergleicht sie in seinem sehr hörenswerten YouTube-Format (https://www.youtube.com/watch?v=E5TXoIWtmLM) mit Jesus. Was denn nun?

Mit Freunden sprach ich kürzlich über das Für und Wider der Aktionen der Klimaaktivisten der Letzten Generation, die sich beispielsweise dem Autoverkehr entgegen kleben. Wäre man selber auch so mutig? Woran würden wir eigentlich erkennen, fragte ich in die Runde, dass die Klimaentwicklung von uns allen fordert, dass wir unsere Lebensweise ändern müssen? Dass die Zeit uns wegläuft – wenn es nicht die Klimaaktivisten gäbe, die sich regelmäßig in Deutschland mit ihrem Tun in die Tagespresse werfen? Deutschland wird seine Ziele im Klimaschutz bis 2030 nicht einhalten können, die Reformen gehen nicht weit genug, sagte am 22.8.23 in Berlin Prof. Hans-Martin Henning, Vorsitzender des Expertenrats für Klimafragen der Bundesregierung.

Die Psychologin Katharina van Bronswijk konfrontiert uns mit der traurigen Wahrheit: »Reine Informationskampagnen scheitern.« Und trotzdem haben wir alle das Klima im Kopf, sagt die Sprecherin der Bewegung »Psychologists/Psychotherapist for Future« in ihrem gleichnamigen Buch (s. auch: »Psychologists-for-Future-Podcast »Klima im Kopf«). Auch der Vielflieger und Millionär Julien Backaus, der kürzlich auf Social Media für viel Aufregung sorgte. Im »ZDF heute«-Talk« mit dem Aktivisten Theo Schnarr hatte er auf die Frage, »wie kommen Sie Ihrer Verantwortung für die nachfolgenden Generationen und unserer Umwelt nach?« geantwortet: »Nach mir die Sintflut. Ich habe keine Kinder.« Auch er hat das Klima im Kopf und zeigt ungewollt der Mehrheit – wie der ständige Störenfried im System einer Schulklasse – was der Wertekanon eigentlich von ihm und uns allen verlangt.

»Was ist eigentlich mit unserem Bild der Zukunft?«, fragt Axel Hacke im Magazin der Süddeutschen (SZ) v. 4.8.23. »Ist es die Neigung, überall Bedrohungen zu sehen, nicht Möglichkeiten?«

Nach einer Studie (SZ v. 3.8.23) des Bundesumweltministeriums und des Umweltbundesamtes wünschen sich mehr als 90 Prozent nachhaltiges Wirtschaften. Was hindert uns daran, das Positive in den für den Klimawandel notwendigen Umstrukturierungen zu sehen? »Wir hören gerne auf Lügen und FakeNews«, meint Gert Scobel auf YouTube, »in Russland, in den USA, in China oder bei uns.« Er sieht in der Letzten Generation eine mahnende Stimme der Vernunft. Auch wenn viele ihre Protestformen ablehnen. Scobel: »Die Kritik an unserer Lebensweise ist ja durchaus vernünftig. Und Vernunft hat es derzeit schwer.« Es wäre gut, meint Scobel, »wenn wir alle unseren Hintern aus der apokalyptischen Zone heraus bewegen würden, wenn wir ein wenig entspannter und freundlicher würden, trotz der Probleme.« Entspannt ließen sich Probleme bekanntlich viel besser lösen und erst recht, wenn wir freundlich seien, zu anderen, zur Umwelt, zu uns selbst.

Freundlichkeit? – Scobel: »Aber es ist der erste Schritt, mit dem alles beginnt.« Und wir brauchen Vorstellungen von den Möglichkeiten, von denen Axel Hacke spricht – wie schön eine nachhaltige Gesellschaft sein kann. Das Buch »Zukunftsbilder 2045 – Eine Reise in die Welt von morgen«, vermittelt eine Welt, wie sie sein kann, wenn wir uns heute um sie kümmern.

Katharina van Bronswijk: »Mancher mag denken, warum soll das mein Bier sein, wenn es sonst niemanden interessiert? Warum bin ich zuständig, wenn das gesamte System was anderes macht?« Immer, wenn wir selbst einen Schritt in die richtige Richtung gehen, so ihr Argument, werden wir »sozusagen PionierInnen des Wandels. Pionier-Innen des Wandels leben anderen Menschen vor, wie die Utopie von einer schönen Zukunft aussehen könnte. Sie verbreiten Zukunftsvisionen und Zukunftswissen.«

Wir brauchen ein anderes Verständnis unserer Rolle in der Welt, sagt die Psychologin van Bronswijk, wir müssen uns wahrnehmen »als Teil dieses wunderbar-komplexen Ökosystems Erde.« Für sie geht es um die Frage: Wer will ich sein in dieser Welt. Und zu dieser neuen Rolle gehören unsere Klimageschichten. »Sprecht mit eurem Umfeld über eure Klimagefühle. Über Panik, Hoffnungslosigkeit, Empörung, über alles, was euch aufs Gemüt schlägt. Warum versuchen wir, die Gefühle aus dem Business rauszulassen, kämpfen gegen unsere (menschliche) Natur und hören nicht darauf, was diese Gefühle uns Wertvolles zu sagen haben: dass wir (pardon) ziemlich tief in der Sch*** sitzen?«

Der letzte Satz ihres Buches: »Die richtige Zeit zum Handeln ist jetzt.«

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