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»Wenn …, dann …«

, von Hartmuth Sandtner

»Der Standard-Albtraum in der Debatte um künstliche Intelligenz«, schreibt Michael Andrick, Philosoph und Autor von »Erfolgsleere – Philosophie für die Arbeitswelt« in seinem Beitrag »KI – nur eine Maske ihrer Erfinder« im der Freitag vom 15.6.23, »ist die Unterjochung des Menschen unter immer „intelligentere“ Maschinen.« Dabei ist die Frage nicht, so der Zürcher Psychiater, Psychoanalytiker und Philosoph Daniel Strassberg (»Der Teufel hat keine Zeit«) am 20.6.23 im Schweizer Internet-Magazin republik.ch in seinem Beitrag »Wie wir zu Maschinen werden«, »ob Maschinen dereinst menschlich werden, sondern wann Menschen zu Maschinen werden – und wie sie denken und handeln.« Auch für Andrick ist die Angst vor einer Machtübernahme der Computer falsch und sogar »hochgefährlich. Sie lenkt von den Interessen ab, in deren Sinn diese Maschinen trainiert werden. Treffen wir auf einen solchen elektronischen Apparatschik müssen wir uns fragen: Was will wohl der Mensch hinter dir von mir?«

Dabei ist es schon gefährlich, den Begriff Intelligenz, der bisher für Lebendiges reserviert war, auf Maschinenlernen anzuwenden. Oder wie der ehemalige Astronaut Prof. Ulrich Walter bei einem Vortrag im Deutschen Museum, der – so Andrick – »unterhaltsam anhand von Witzen darüber sinniert, ob eine bestimmte „KI“ schon „Weltverständnis“ erreicht habe wie ein Erwachsener homo sapiens.« Denn Intelligenz, so sagt auch Walter, ist die Fähigkeit, zu verstehen. Dazu die in Reinbek beheimatete Hamburger Professorin Dr. Judith Simon, Mitglied des Deutschen Ethikrates, Sprecherin der Arbeitsgruppe »Mensch und Maschine« am 24.5.23 im der Freitag-Interview mit Ulrike Baureithel: »Auch wenn es NutzerInnen so erscheinen mag: ChatGPT versteht nichts und hat kein Bewusstsein, keine Gefühle, keine Empathie.« Das Ansehen des Begriffs Intelligenz »achtlos plaudernd auf Maschinen zu übertragen [...] – auf elektronische Reflexe in einem Chip«, hat »kulturell weitreichende Folgen.« Denn es rückt außer Betracht, wie Andrick verdeutlicht, »dass KI-Systeme in Wahrheit maschinelle Funktionäre im Dienst der Interessen ihrer Entwickler sind.«

Daniel Strassberg sieht die Gefahr sich »still und schleichend« nähernd: »Es geht um die Anpassung der Menschen an die Maschine.« Und um die seit Jahrhunderten laufende Anpassung zu zeigen, verweist er auf den Architekturhistoriker Sigfried Giedion und sein monumentales Werk »Die Herrschaft der Mechanisierung« (1948), in dem dieser detailliert die Folgen der Mechanisierung beschreibt: Standardisierung, Auswechselbarkeit und Distanzierung. Für die Standardisierung und ihre Folgen bringt er als Beispiel, wie sich durch die maschinelle Herstellung von Stühlen in Massen – im Unterschied zur kostspieligeren handwerklichen Herstellung eines Stuhls – allmählich der Geschmack der Konsumenten verändert: »Als schön gelten fortan jene Stühle, die man sich leisten kann.« Strassberg sieht auch die Texte von ChatGPT den Folgen der Standardisierung unterworfen. Für ihn besteht die Gefahr nicht darin, dass KI-Texte sich bald nicht mehr von menschlichen Texten unterscheiden und dass Schülerinnen ihre Aufsätze von ChatGPT schreiben lassen. »Nein, die Gefahr ist, dass ChatGPT den Standard vorgibt. Es ist zu befürchten, dass wir bald wie Texte von ChatGPT klingen werden: höflich und trivial – und unendlich langweilig.«

Die Distanzierung des Menschen vom Geschehen macht Giedion deutlich am Beispiel der »Mechanisierung des Todes« in den Schlacht-häusern Chicagos«. Strassberg: Das hatte zur Folge, dass »die Produktion und damit die Ausbeutung von Mensch und Natur dem Blick des bürgerlichen Konsumenten entzogen wurden.« »Je höher der Grad der Mechanisierung ist«, schreibt Sigfried Giedion in seinem Buch, »umso mehr wird der Kontakt mit dem Tod aus dem Leben verdrängt.« Und er fragt: »Hat diese Neutralität des Tötens eine weitere Wirkung auf uns gehabt?« Er sieht die Mechanisierung »durch alle Sinne in das Innerste der Seele vorgedrungen.« Hat sie unsere Seelen nicht nur desensibilisiert gegenüber den Tötungen in den Schlachthäusern? Hat sie uns abgestumpft gegenüber dem Tod überhaupt? Ist sie Grund für unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem sinnlosen Töten in den Kriegen weltweit, für unsere Ungerührtheit gegenüber den Ertrinkenden im Mittelmeer?

»Auch die Anpassung an das algorithmische Denken haben wir schon hinter uns«, offenbart Daniel Strassberg: »Wenn – dann, das Grund-schema mechanisierten Denkens, hat sich in der Medizin längst durchgesetzt. Diagnostisches Wissen, Beobachtungs-gabe, Einfühlungsvermögen und Erfahrung sind weitgehend durch Manuale, das heißt durch standardisierte Vorgehens-weisen, ersetzt worden. Menschen beginnen sich wie Maschinen zu verhalten: Wenn …, dann …«.

»Es ist an der Zeit«, sagt Sigfried Giedion vor 70 Jahren am Ende seines 800 Seiten starken Buches, »dass wir wieder menschlich werden und alle unsere Unternehmungen von einem menschlichen Maßstab leiten lassen«.

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