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Die »Kraft des Grau«

, von Hartmuth Sandtner

Am 10.6.23 erschien im Schweizer Internetmagazin republik.ch von Michael Ebmeyer (Autor von »Nonbinär ist die Rettung. Ein Plädoyer für subversives Denken«, Ende Juni 2023) ein Beitrag unter dem Titel »Binär ist die Katastrophe. Non-binär ist die Zukunft.« Bei Non-binär denken viele vielleicht gleich an die Gender-debatte. Aber es geht um mehr wie Ebmeyer aufzeigt: »Es geht in einer non-binären Welt darum, sich zur Vielfalt des Lebens generell zu bekennen, die Stimme der Vernunft gegen den binär orchestrierten Lärm zu erheben«. Ebmeyer fordert deshalb »mehr Grauzone«.

Schon Paul Cézanne, so berichtet Peter Sloterdijk in seinem Buch »Wer noch kein Grau gedacht hat«, hatte sich festgelegt: »Solange man kein Grau gemalt habe, sei man kein Maler«. Was den Philosophen Sloterdijk wiederum anregte, diesen Satz auf die Philosophie zu übertragen: »Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph.« Und Sloterdijk findet in seinem Buch Argumente für seine Intuition, angefangen bei Platon, über Hegel bis hin zu Heideggers »in der Welt sein«. »Das Grau, das zu denken gibt, ob man es als Begriff oder als Metapher [...] auffasst«, argumentiert Sloterdijk »ist dem Unentschiedenen zugeordnet. Es meint »das Zweifelhafte, das Mehrdeutige, das Ungefähre«, auch »das in ferner Vorzeit Versunkene«, [...] das zwischen Schwarz und Weiß Liegende. Ist es nicht Farbe, heißt es Alltäglichkeit. Als Milieu [...] wird es zur „Welt“ im ganzen.«

»Wer Zwischenraum hört, denkt gerne an Chaos und Verfall«, sagt Ebmeyer. Für ihn »prägt eine binäre Ordnung unser Denken und die Art, wie wir uns in der Welt zurechtfinden.« Und er zählt auf: »Dieses Schema beschränkt sich nicht auf die Zweiteilung Frau/Mann. Lauter weitere Gegensatzpaare haben wir verinnerlicht: oben/unten, zugehörig/fremd, Chefinnen/Untergebene, Zivilisation/Natur.« Was sich der Entweder-oder-Einteilung entzieht – das Non-binäre – was sich als »Vielfalt« zeigt – Ebmeyer: »die unsere binären Routinen malerisch umrankt« – wird solange nicht als störend notiert, solange sie nicht dem »Prinzip von Herrschaft und Unterordnung ins Gehege kommt.«

Dann aber behandeln staatliche Instanzen beispielsweise die »Letzte Generation« als eine Gegnerin nach binärem Schema. Michael Ebmeyer: »Dabei ist sie das eben nicht. Zwar werden ihre Appelle gerne als Wacht-auf!-Rhetorik gelesen, was auf einen binären Ansatz schließen ließe: die Schlafenden/die Erwachten.« Doch ist diese Lesart für Ebmeyer »eine – meist gezielte – Fehldeutung. Denn was bewegt die »Letzte Generation«, wie wohl alle Klimaschutzgruppen? Die Bewahrung von Diversität. Im umfassendsten Sinn: die Bewahrung der Biodiversität.«

Was ist eigentlich non-binär? »Non-binär«, so Ebmeyer, »heißt, uns die Erde nicht untertan machen zu wollen, sondern sich zur Vielfalt des Lebens zu bekennen und in ihrem Interesse zu handeln«. Bewegungen wie die »Letzte Generation« oder »Fridays for Future« versuchen nicht, ein Interesse gegen ein anderes zu setzen. Ebmeyer: »Ihr Anliegen ist es, den Umgang mit den Biotopen aus der zerstörerischen Praxis des binären Schemas zu befreien. Mit jeder Hiobsbotschaft zur Erderhitzung wird klarer: Sie sind Stimmen der Vernunft, jenseits des binär orchestrierten Lärms.«

Doch die Geschichte dieses »Lärms«, dem wir ausgesetzt waren und weiter sind, ist lang. Die Logik des »entweder oder« (gut oder böse, Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind, Liebe oder Hass) steht der des »sowohl als auch« gegenüber. »Wo letztere sich durchsetzt«, so Peter Sloterdijk in seiner Diktion, »vergrößern sich die Räume, in denen der Konsum von Indifferenzdrogen blüht.« Die christliche Ethik, aber auch später Kant »sah die Indifferenzgefahr mit großer Sorge« und letzterer ließ »gegen ihren Sog [...] die Gesetzlichkeiten der reflektierenden Urteilskraft walten«. Sloterdijk: »Von ihr erwartete er, sie könne das Unstimmige, Verstörende, Launige, Groteske, in summa das Unschöne aussondern.«

»Die Genderdebatte«, schreibt Ebmeyer, »in der sich das Non-binäre Geltung verschafft, kann ein Modell sein, um das Prinzip von Herrschaft und Unterordnung umfassend infrage zu stellen. Ähnlich wie die Auflösung des strikten Geschlechterdualismus letztlich dem Machtapparat Patriarchat die Grundlage entzieht, hätte die Anerkennung des Non-binären das Potenzial, auch andere autoritäre Strukturen zu überwinden.«

Für Ebmeyer ist im »Kontrast zu autokratischen Modellen die Demokratie selbst gewissermaßen ein non-binäres Angebot. Zwar nur eingeschränkt, weil auch sie auf ihre Art dem Prinzip Herrschaft verpflichtet bleibt. Doch immerhin macht sie Grauzonen stark, sie feiert die Vielfalt innerhalb des Schemas – solange sie eben selbst nicht zu fragil wird.«

Vielleicht können wir ja Cézannes und Sloterdijks Vorbildern folgen und sagen: Solange ich mich nicht zur »Kraft des Grau« bekannt habe und in ihrem Interesse handle, bin ich kein Demokrat.