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Das darwinistische Prinzip

, von Hartmuth Sandtner

Im nordrhein-westfälischen Freudenberg töten zwei 12 bzw. 13-jährige Mädchen ein anderes Mädchen. Götz Eisenberg, Sozialwissenschaftler und zwischen 1985 und 2016 Gefängnispsychologe und Autor des Buches »... damit mich kein Mensch mehr vergisst! – «, schreibt im der Freitag vom 23.3.23 unter »Freudenberg: Wenn Kinder Kinder töten«: »Die Täterinnen sind, wie immer man es dreht und wendet, Kinder dieser Gesellschaft. Ihre Gewalt stammt nicht von einem fremden Stern, sondern ist das Resultat einer Kindheit, die angefüllt ist mit Bildern der Gewalt und die in einer Gesellschaft stattfindet, die selber auf Gewalt basiert und tagtäglich Gewalt produziert.«

Elisa Hoven (40), Strafrechtsprofessorin in Leipzig und Richterin am Verfassungsgerichtshof Sachsen, meint in einem Streitgespräch in der ZEIT vom 23.3.23 mit der GRÜNEN-Politikerin und Rechtsanwältin Renate Künast (67): »Ich glaube, dass wir es anlässlich dieses Falles diskutieren müssen […], die Strafmündigkeitsgrenze auf 12 Jahre abzusenken«. Künast – sie sitzt im Bundestags-Rechtsausschuss, in den Siebzigern war sie Sozialarbeiterin in einer Berliner JVA: »Mein Eindruck [war], dass es jungen Menschen oft an Reife und Einsicht fehlt. Sie definieren sich über ihre Bezugsgruppe, Freunde, Familie, Umfeld – nicht über die Frage, was legal ist und was nicht.«

Eisenberg mahnt: »Man wird in diesem Fall […] Schuld nicht individuell zurechnen und abwickeln können.« Hoven sagt: »Die Grundlage unseres Strafrechts [ist] immer Schuld. Und Schuld setzt voraus, dass ich mein Handeln steuern und das Unrecht meiner Tat einsehen kann.« Künast fehlt hierzu der Beleg: »Man kann nicht pauschal sagen, dass ein 12-jähriges Kind einsichtsfähig ist.« Zudem fragt Eisenberg »Wie viele Morde hat ein 13-jähriges Kind am Bildschirm bereits gesehen? In und an deutschen Schulen wird viel Gewalt praktiziert und auch hervorgerufen. Es wird in einem Ausmaß gemobbt und verletzt, das wir uns nur schwer vorstellen können. Mitunter wissen die Opfer nicht mehr weiter und bringen sich um.« Aber es gibt auch die anderen, die sich wehren. »Die Phantasien Gedemütigter sind immer furchtbar«, zitiert Eisenberg in seinem Buch die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen aus ihrem Buch »Älter werden«: »Grausamkeit ist die Rache des gekränkten Stolzes.«

Künast: »Vor 100 Jahren waren Kinder stärker in Familienbezüge integriert. Heute sind sie öfter auf sich gestellt. Smartphones öffnen den Weg in die Verrohung. Das fängt an bei Games, in denen gemetzelt wird, und endet bei digitalem Mobbing.« »Mobbing ist der “Breitensport“, dem sich die seltene “Spitzenleistung Mord“ mitverdankt, zitiert Eisenberg den Sozialpsychologen Peter Brückner. Für Eisenberg hätte darum eine »Gesellschaft, in der eine solche Tat möglich war, […] als ganze auf der Anklagebank Platz zu nehmen.« In seinem Buch beschreibt er die heutige Lage als gekennzeichnet »durch das Zugleich eines enorm gestiegenen Leistungsdrucks, des rapiden Schwunds innerer Selbstzwänge und Hemmungen – befördert durch eine systematische Desensibilisierung durch exzessives Spielen brutaler Computerspiele – und einer gewachsenen narzisstischen Verwundbarkeit«. Im der Freitag stellt uns Eisenberg die Frage: »Wollen wir die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche heranwachsen, weiter den ökonomischen Funktionsimperativen unterordnen?« Verhältnisse, die sich für ihn »unter dem Neoliberalismus entwickelt und ausgebreitet« haben.

»Strafe ist die Antwort [des Staates] auf verschuldetes Unrecht«, so Elisa Hoven. »Wir vergelten Unrecht durch Strafe. Sie ist keine sozialtherapeutische Intervention.« Für Eisenberg jedoch liegt die Schuld beim von Hoven benannten »Wir« – dem Staat – oder der Gesellschaft, die »eine zeitgemäße Form der Kindesaussetzung« betreibt: »Kaum der Wiege entstiegen, werden Kinder vor Bildmaschinen gesetzt und mit der Flut der Bilder alleingelassen.« Um die Normalität für unsere Kinder noch plastischer zu machen, setzt er noch ein Zitat des Philosophen Peter Sloterdijk drauf: »Gegenwärtig drohen sie aus dem Mutterleib direkt in die Gesellschaft des entfesselten Marktes zu stürzen und moralisch zu verwildern.« Wie die Süddeutsche vom 31.3.23 schreibt, ist die Zahl der tatverdächtigen Kinder um 35,5 % gewachsen. »Bei den nichtdeutschen Kindern beträgt der Anstieg sogar 48 %.«

Verwildern sie »nach dem darwinistischen Prinzip?« Götz Eisenberg hat zur Illustrierung der sozialen Konsequenzen dieses Prinzips – seiner »kalten Schonungslosigkeit, moralischen Indifferenz und frei flottierenden Aggressivität« – eine merkenswerte Geschichte des Philosophen (und zeitweiligen Chauffeurs von Rudi Dutschke) Horst Kurnitzky (1938-2021) parat: Zwei Jungen begegnen irgendwo in den amerikanischen Wäldern einem aggressiven Grizzlybären. Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Turnschuhe an. Da sagt der in Panik Geratene: »Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär.« Sein Freund entgegnet ihm: »Du hast recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du.«

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