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, von Hartmuth Sandtner

»Jedes fünfte Kind lebt unter der Armutsgrenze«, schreibt Ulrike Baureithel im der Freitag vom 2.3.23 und macht sich in ihrem Beitrag Gedanken über die Verteilung der 424 Milliarden des Bundeshaushalts für 2024, dessen Eckpunkte am 15. März festgeklopft werden sollen. Und sie findet es »himmelschreiend«, dass ein Projekt wie die Kindergrundsicherung noch nicht längst umgesetzt wurde. »Doch Familienministerin Lisa Paus (Grüne) kommt mit ihrem Gesetzesentwurf nicht zu Potte, und nun stehen sie da, die Anwärter:innen für den 424 Milliarden Euro starken Haushalt im Jahr 2024, und halten die Hand auf«, so Baureithel. Janina Lütt (46) sagt im der Freitag vom 19.1.23, sie würde für sich und ihre Tochter gerne Bio-Lebensmittel kaufen. Aber als eine der rund 13 Millionen Armutsbetroffenen in Deutschland kann sie sich das schlicht nicht leisten. Derweil herrscht bei Firmen der Rüstungsindustrie wie Rheinmetall »gerade Goldgräberstimmung«, wie Alexander Lurz (Kampaigner und Experte für Abrüstung bei Greenpeace) im der Freitag vom 23.2.23 beschreibt. Zwar bekommt die Bundeswehr schon aus einem »Schattenhaushalt« (Baureithel) 100 Milliarden, und Boris Pistorius fordert schon eine Aufstockung des Wehretats um zehn Milliarden pro Jahr, aber Alexander Lurz sagt im Interview: »Nach allem, was ich im Gespräch mit Parlamentariern höre, droht das in den nächsten Jahren auf wesentlich mehr hinauszulaufen. Da ist einfach gerade jede Barriere gefallen. Man muss auch gar nicht mehr richtig begründen, wofür man etwas genau braucht.«

Dabei kommt dieses Geld, wie Lurz betont, »nicht aus dem Nichts«, es führt dazu, »dass am Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, am Klimaschutz und anderen wichtigen Dingen gespart wird.« Und trotz all dem verspricht uns die Regierung »grünes Wachstum ohne Wohlstandsverlust«, so der Soziologe Philipp Staab in einem Interview im der Freitag vom 2.3.23, unter der Überschrift »Wir können die Welt höchstens reparieren«. Er sieht uns – durch die Klimaerwärmung mit all ihren Folgen – gezwungen »in eine Gesellschaft der Anpassung hinein« zu wachsen. Für Staab zeigt sich jetzt schon bei den jungen Leuten eine Reaktion gegen die »Pathologien der Freiheit, die die bisherige Gesellschaft hervorgebracht hat«: Sie »rebellieren für gelingende Anpassung, nicht für mehr Freiheitsgrade«, was mit der auf Anpassungsverdrängung beharrenden Gesellschaft (siehe u.a. die Reaktionen auf die Aktionen der Letzten Generation oder die E-Fuels-Diskussion) zu Konflikten führt.

Und das Soziale gerät dabei »unter Panzerketten«, so die Sicht von Ulrike Baureithel. »Wird das Projekt der Familienministerin abgeräumt oder auf endlos verschoben, werden Weichen gestellt, etwa wenn es um die Erhöhung der Bundeszuschüsse für die Sozialkassen geht, um Kitas und Schulen und vieles mehr.«

Janina Lütt (sie twittert ihr Leben in Armut unter dem Hashtag #IchbinArmutsbetroffen) wird auf verschiedenste Weise angefeindet. Sie berichtet im der Freitag vom 13.3.23: »Ich solle mich schämen, als Bürgergeldbezieherin mehr Geld zu verlangen, weil der Regelsatz zu niedrig bemessen ist. Niemand schreibt einem Spitzenmanager, der ein paar Tausend Euro mehr verdient in der Krise, dass er sich schämen soll, so viel Gewinn zu machen.« Und Janina Lütt fragt: »Wo wäre Deutschland ohne seine Armen, die immer dann wichtig sind, wenn es darum geht, PR-Fotos für Politiker zu machen? [...] Anstatt sich mit den Ursachen und Hintergründen der politisch gewollten Armut zu beschäftigen, werden wir beschimpft, verschwiegen oder ignoriert.«

Lütt zitiert den Armutsforscher Christoph Butterwegge: »leider ist in Deutschland der Sozialneid nach unten sehr ausgeprägt. Angehörige der unteren Mittelschicht glauben oft, die Armen würden vom Staat gepampert. Dabei wäre es gerade für die Mittelschicht logischer, nach oben zu schauen«. Janina Lütt bekommt seit Jahresbeginn – jeden Monat 503 Euro Bürgergeld. Darin sind 155,82 Euro für Lebensmittel und Getränke vorgesehen. Lütt: »Gesunde und ausgewogene Ernährung ist wichtig, aber haben Sie schon einmal versucht, mit 5,73 Euro pro Tag für sich als erwachsene Frau und mit 3,43 Euro pro Tag fürs Kind gesund einzukaufen?«

Dass die Kindergrundsicherung noch in der Warteschleife hängt, ist für Ulrike Baureithel das Symbol für eine Sozialpolitik bestimmt »vom Ausspielen von Kindern und Soldaten«, die – gemäß der vielfach beschworenen Formel, »nach der es keine Freiheit ohne Sicherheit gebe« – immer stärker unter Druck geraten wird. Dazu wird auch der vom Zeitgeist »Baerbock’scher Moral« (Das Streiflicht in der Süddeutschen vom 14.3.23) getragene Kriegsfilm seinen Beitrag leisten.

1,81 Euro stehen Janina Lütt pro Monat für Bildung im Bürgergeldsatz zur Verfügung. Als sie sich letztlich ein Buch für 15 Euro kaufen wollte, musste sie den restlichen Betrag von ihrem Satz für Bekleidung und Schuhe nehmen, um das Buch zu bezahlen. Für diese Gegebenheiten stehen wir alle in der Verantwortung. Weil wir so wählen wie wir wählen.