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Es grünt so grün. Oder?

, von Hartmuth Sandtner

Ich bin kriegsmüde. Ich bin das nicht erst, seit der hemdsärmelige Herr Selenskyj die Köpfe unserer Regierung und die Spalten und Sites unserer Medien beherrscht und sich unsere Außenministerin mit ihm vergeschwistert hat. Ich war das immer schon. Schon 1943, als im Krieg über Reinbek hinweg die Bomberflotten gen Hamburg dröhnten, als der Himmel sich rotglühend färbte, nachdem sie über Hamburg ihre unsägliche Last abgeworfen hatten. Schon als wir in unserer Familie nach jedem Sirenengeheul in der engsten und nach Ansicht meines Vaters sichersten Stelle unseres Kellers zusammhockten. Schon als Reinbeks Schulen Lazarette waren und die Soldaten auf dem Rasen des Sportplatzes an der Sachsenwaldschule sich von ihren Operationen erholten. Schon als ich statt in die Volksschule in Reinbek über die Felder in die Dorfschule von Schönningstedt musste. Besonders, wenn ich mich als Schulkind in der Bismarckstraße in den Straßengraben warf, wenn wieder die Sirenen heulten und Bomber herandonnerten. Und irgendwie war ich auch kriegsmüde, als  das  Granatsplittersammeln auf dem Schulhof der Sachsenwaldschule für uns Kinder zur makabren Schatzsuche pervertierte.

Am 2. Juni 2022  lud das Schloss Reinbek zum Kamingespräch mit Ibrahim Arslan, dessen Familie am 23. November 1992 dem rassistischen Brandanschlag in Mölln zum Opfer fiel. Er kämpft seit vielen Jahren um ein der Menschenwürde der Opfer Respekt entgegenbringendes Erinnern an das rassistische Geschehen. Müssen wir angesichts unserer Außenministerin, die »den westlichen Staaten« – also auch uns Deutschen – Kriegsmüdigkeit vorwirft (bit.ly/3wSR2tS), nicht alle, die wir darum wissen oder noch gelernt haben, wie es war im Krieg, ihr und allen mehr erzählen von einem Krieg, der in die Atombombenabwürfe der USA auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im Juli 1945 mündete? Klaus von Dohnanyi, SPD-Politiker, ehemaliger Hamburger Bürgermeister und Bundesminister meint zum Vorwurf der Kriegsmüdigkeit durch Annalena Baerbock am Ende eines längeren NDR-Interviews (bit.ly/3xszvJe) am 27.5.22, »ein solches Wort hätte früher wahrscheinlich zum Rücktritt des Außenministers geführt«. Mangelnde Kriegserfahrung kann man der jungen Frau nicht vorwerfen, sie lässt sich auch in einem mehrjährigen Studentinnenleben nicht so einfach anlesen und -fühlen. Darum braucht es mehr Erzählungen vom Krieg, denn neben Nazis, Konzentrationslagern und Brand- und Terroranschlägen gehört auch Kriegserfahrung mit ihren unsäglichen Leiden zu Deutschlands schwerem Erbe. Es reicht offensichtlich nicht, in allen deutschen Städten Mahnmale stehen zu haben wie in Hamburg die alte Nikolaikirche, um zu verhindern, dass jemand – demokratisch legitimiert? – die »außenpolitische 180-Grad-Wende im richtigen Moment und bei vollem Bewusstsein« verkündet wie Baerbock am 27.2.22 in der Sondersitzung des Bundestages. von Dohnanyi erinnert in seinem Interview daran, dass es »Politik der USA gewesen [ist], die Ukraine unbedingt in die NATO zu bringen. Der Schlüssel für den Frieden in der Ukraine liegt in den USA.« Und von Dohnanyi erinnert auch daran, dass Russland unser Nachbar ist und stellt klar »Ohne Berücksichtigung [der] Sicherheitsinteressen Russlands wird man keinen Frieden in Europa finden«.

Und was sind Deutschlands Interessen? Wolfgang Michal zitiert dazu in einem Beitrag im der Freitag vom 27.5.22 unter der Überschrift »Deutsche Hexenjagd« (bit.ly/3t8hDSD), Gerhard Schröders Worte aus seinem kürzlichen Interview in der New York Times, er habe »immer deutsche Interessen vertreten«. Wolfgang Michal: »An anderer Stelle betonte er, sein Ziel sei gewesen, den wachsenden Energiehunger der deutschen und europäischen Wirtschaft zu stillen. Die Rohstoffe dafür lägen in Russland. Deshalb sollten wir seine Jobs in russischen Unternehmen gefälligst für so selbstverständlich halten wie Mandate anderer Ex-Politiker in amerikanischen Firmen.« Michal sieht in der gegenwärtigen Zurechnung Schröders zum »Reich des Bösen« ein »untrügliches Zeichen« für unseren »Rückfall in die wohl hysterischste Phase des Kalten Krieges« und prognostiziert: »Es wird nicht mehr lange dauern, dann gibt es in Deutschland – wie in den USA in den frühen 1950er Jahren – einen „Ausschuss zur Untersuchung prorussischer Umtriebe“, vor dessen Inquisition „russlandhörige“ Sozialdemokraten, friedensbewegte Unterzeichner Offener Briefe und andere [...] ihre Moskau-Kontakte beichten müssen, wenn sie nicht auf einer Schwarzen Liste landen wollen.« Und er meint: »Wenn sogar einem Bundespräsidenten oder einem Altkanzler, der mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet wurde, in sozialen wie unsozialen Medien unwidersprochen ein Talkshow-öffentlicher Schauprozess gemacht werden kann, ist etwas aus den Fugen geraten.«

Und, um noch mal auf die Frage der deutschen Interessen zurückzukommen: Michal zitiert Schröder aus dem Jahr 2019: »Ich gehöre zu denjenigen, die glauben, dass wir Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer eine historische Schuld gegenüber Russland abzutragen haben.«

Vielleicht passt dazu das Schlusswort von Klaus von Dohnanyi in seinem NDR-Interview: »Die Frage des Klimawandels und der Folgen des Klimawandels sind die wahre und die wirkliche und die größte Bedrohung Europas und der Welt. Und wenn man das in den Hintergrund schiebt, dafür, dass man sagt, man muss jetzt in einem Krieg gewinnen, dann halte ich das für weltweit gesehen und international gesehen, eine höchst problematische Haltung.«

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