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»dass wir MENSCHEN bleiben«

, von Hartmuth Sandtner

In der ZEIT vom 21.4.22 fordert Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: »Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre«. Sowohl die Zahl der Neuerscheinungen als auch die der verkauften Bücher ist seit Jahren rückläufig. »Folglich«, so Zierer, »zeigen international die Vergleichsstudien wie Pisa, Pirls und Piaac: Die Lesekompetenz, welche hierzulande seit Ende des Zweiten Weltkrieges stetig zugenommen hatte, sinkt auch in Deutschland wieder.« Ähnlich sieht es auch Leo Igel im der Freitag vom 14.4.22. »Wer mit einem Smartphone aufwächst, versteht oft lange Texte nicht mehr.« Facebook, Instagram, Twitter verändern unsere Sprache, und das »wie in einem Schnellkochtopf«, so Igel. Die Text-Essenzen in den Sozialen Medien missachten die Regeln der Schriftsprache. Wenn sich viele Menschen aber nur mit diesen Essenzen beschäftigen, lernen sie nicht, lange, komplexe Texte zu verstehen. »Und wer die Welt verstehen und gestalten will«, so Igel, »muss sich ihrer Komplexität stellen«. Dafür braucht es den komplexen Text, wie beispielsweise den von Jürgen Habermas,  einem der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart, der sich in der Süddeutschen vom 29.4.22 mit einem umfangreichen Beitrag zum »Dilemma des Westens« im russisch-ukrainischen Krieg äußert: »Das Dilemma des Westens besteht darin, dass er einem gegebenenfalls auch zur atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völkerrechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, dass er auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.«

Aber was ist, wenn bei den potentiellen Leserinnen und Lesern dieser Gedanken die Lesekompetenz gar nicht mehr vorhanden ist und die Menschen von daher auch zweiseitige Beiträge – wie in diesem Fall von Jürgen Habermas – in der Zeitung gar nicht mehr anlesen? »Viele Studierende«, so Klaus Zierer, »lesen weder Tageszeitungen, noch kennen sie diese«. Und er setzt hinzu: »Was ich bei den Studierenden beobachte, gilt in ähnlicher Weise für alle Menschen.«

»Angesichts der Bedeutung dieser Kulturtechnik für den Einzelnen und die Gesellschaft ist das besorgniserregend«, urteilt Klaus Zierer. Nicht nur, weil hohe Lesekompetenz vor Arbeitslosigkeit schützt oder hilft, Fake-News zu erkennen, sondern weil »Lesen Offenheit und Meinungsfreiheit voraussetzt«, und damit »ein zutiefst demokratischer Akt« ist. »Denken ist das Gespräch des Menschen mit sich selbst. Wer schreibt, der übersetzt dieses Selbstgespräch in einen Text und macht es für andere nachvollziehbar«, erklärt uns Leo Igel. »Das heißt: Sprache ist der menschliche Zugang zur Welt, weil sie das Denken ermöglicht. Die Sprache ist das Grundlegendste, das der Mensch hat.« »Sie hilft, dass wir Menschen bleiben. Sie rührt an unsere Seele.« sagte die ukrainische Lyrikerin Volha Hapeyeva mit Blick auf Poesie und Literatur kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen. Oder wie es der 16-jährige Conrad Henzler bei Thea Dorn in der ersten U-21 Ausgabe des Literarischen Quartetts aus Anlass des Welttages des Buches formulierte: »gute Bücher schließen einem neue “Konzepte“ zur Welt auf.« Und um Konzepte geht es. Nicht nur aus Büchern, sondern auch in einem Text wie dem von Jürgen Habermas. Und in dem geht es um ein Konzept zur Findung des Friedens, angesichts der medialen Überpräsenz des ukrainischen Kriegsgeschehens in unserem Alltag und der »Selbstgewissheit«, so Jürgen Habermas, »mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten«. Er reflektiert dabei auf die »postheroische Mentalität«, die sich »während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem atomaren Schutzschirm der USA« im Westen Europas ausgebildet hat und fordert »kühle Abwägung« und gegenüber dem »heute vorherrschenden Bild vom entschlossen revisionistischen Putin« wenigstens den Abgleich »mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen«. Dabei erinnert Habermas angesichts der »Konfusion der Gefühle« ehemaliger Pazifisten an Alexander Kluges Weisheit, »Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen«. »Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf«, so Habermas im Schlusswort.

»Indem der Mensch erzählt«, sagt Leo Igel – und Jürgen Habermas zeigt darin eine hohe Kunstfertigkeit – »schafft er Ordnung in der Unordnung der Welt. Nur im Erzählen lässt sich die Welt verstehen.« Aber laut einer Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest greifen nur noch 40 Prozent aller Gymnasiasten regelmäßig zu einem Buch. Aber 70 Prozent spielen digitale Games. Doch das digitale Spiel kann den literarischen Text nicht ersetzen. Igel: »Eben weil es die Grundlage des Menschlichen überspringt: den Fokus auf die Sprache. Die jungen Leute sind die Leidtragenden dieser Entwicklung. Sie müssen ausbaden, dass die Erwachsenen verschlafen haben, sie für die schriftlichen Absonderlichkeiten im Netz zu sensibilisieren.«

»Vertieftes Lesen muss gelehrt und reflektiert werden, aus Sicht der Forschung zuerst mit analogen, dann mit digitalen Medien.« So sieht es der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer und fordert die Lektüre »im Kern des Curriculums – für Schule und Universität.

Auf »dass wir MENSCHEN bleiben.«