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Sie dürfen nicht alles glauben was Sie denken!

, von Hartmuth Sandtner

Zu denken gibt es viel in diesen Zeiten. Verfolgen Sie von den Podcasts des NDR den zweimal täglich informierenden ‚Krieg in Europa – das Update zur Lage‘ in der Ukraine, um up-to-date zu bleiben? Oder hören Sie lieber den nur einmal täglich aufklärenden Sicherheitspodcast ‚Streitkräfte und Strategien‘? Oder präferieren Sie den MDR-Podcast zum Ukraine-Krieg ‘Was tun, Herr General?‘ oder den spiegel-Podcast ‘Putins Krieg‘? Wenn Sie keine Podcasts mögen, waren Sie vielleicht kürzlich bei der FDP-Veranstaltung im Schloss, wo sich Nicola Beer, Vizepräsidentin des EU-Parlaments und FDP-Vize, zum Ukraine-Krieg äußerte (Berged.Ztg., 21.3.22), und erklärte, dass die Ukrainer »ebenso für unsere Freiheit kämpfen«. Damit hat wahrscheinlich auch zu tun, dass die FAZonline am 21.3.22 meinte »Deshalb muss nicht nur die Wehrfähigkeit Deutschlands Chefsache sein; es geht um gesamtgesellschaftliche Widerstandsfähigkeit und Durchhaltevermögen. Angefangen beim Schutz der Zivilbevölkerung [...] bis zu kampfbereiten, für ihren Auftrag gerüsteten Streitkräften.« Dafür braucht es dann »Das Unternehmen der traurigen Stunde« – so die Headline der Süddeutschen (SZ) v. 17.3.22 mit der Info: »Deutschlands größter Rüstungskonzern Rheinmetall sucht Hunderte Beschäftigte und ist an der Börse gut 60 Prozent mehr wert als vor Ausbruch des Krieges.« Bei den Aussichten ist es kein Wunder, dass lt. einer Allensbach-Umfrage (FAZ, 23.3.22), in Deutschland infolge des russischen Überfalls der Zukunftsoptimismus auf einen Tiefstwert gefallen ist. »Drei von vier Deutschen fühlen sich durch Russland bedroht.« Und dann ist es auch nicht so sehr überraschend, dass Claudia Roth sich fragt (SZ v. 23.3.22), ob man Tanz angesichts des Krieges noch »genießen« könne.

An diese Stelle gehört die hohe Weisheit von Heinz Ehrhardt: »Sie dürfen nicht alles glauben was sie denken!« Ein Satz, den Kurt Krömer (»Chez Krömer«) in seinem hochinteressanten Interview (»Gelassenheit«) in der SZ vom 19.3.22 über seine Depression reaktiviert hat. Denn neben Podcasts und Wahlkampfreden wirken – wie Christoph Koopmann in der SZ v. 22.3.22 in seinem Beitrag »Der Krieg auf den Smartphones« ausführt – auch noch die sozialen Medien auf die Gesellschaft ein: »Die sozialen Netzwerke sind voll mit Wortmeldungen, Bildern, Videos [...] Mal zeigt der Bildschirm, wie die Menschen leiden und sterben, mal zeigt er Tröstliches. Der Krieg, verzehrfertig portioniert für ein Weltpublikum, das hungrig ist nach Bildern, Helden, nach Nähe zum Geschehen.« Und Koopmann macht deutlich, »die ukrainische Regierung weiß diese Kultur zu adaptieren.« Es sei keine Überraschung, dass die Beiträge aus der Ukraine in der ganzen Welt so verfangen, zitiert er die Neurowissenschaftlerin Maren Urner von der Hochschule für Medien in Köln: »In sozialen Medien regiert die Währung Emotion. [...] dort Russland, der große Aggressor, hier die Ukraine, der tapfere Underdog.« Neu sind diese Kategorien nicht, so Koopmann, in Kriegen wurden schon immer zugespitzte Feindbilder in die Welt gesetzt. »Das Neue ist das Tempo«, sagt Katharina Kleinen-von Königslöw, die an der Universität Hamburg zu politischer Social-Media-Kommunikation forscht. »Heute ermögliche es das Netz, binnen weniger Tage »praktisch die ganze Welt in eine Polarisierung zu treiben«. So sei in den Tagen nach Kriegsbeginn ein großer Druck entstanden: »Der Beschluss, dass Deutschland der Ukraine Waffen liefert und selbst aufrüstet, wäre ohne diesen Druck sicher nicht in der Form und so schnell gefasst worden.« »Twitter, Telegram, Facebook, Tiktok, Instagram sind mittlerweile wichtige Waffen im Krieg. Kiew demonstriert, wie man sie einsetzt, dabei sind viele Mittel recht.«, so Koopmann.

Bei diesen Argumenten kommt ein Gedanke ins Spiel, der unsere Gesellschaft als Beobachter des Kriegsgeschehens betrifft und von Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge (»Sieger ist nicht, wer die Schlachten gewinnt«, die zeit v. 3.3.22) in die Diskussion gebracht wurde: Er warnt vor der Ästhetisierung des Krieges. »Das ist genau das, was ich so gefährlich finde. [...] An die Stelle von Ästhetisierung muss mit voller Empathie und Emotion das hierfür notwendige Unterscheidungsvermögen in unseren Öffentlichkeiten geschärft werden. [...] Ein Maschinengewehr mit Klitschko dahinter ist hingegen nichts weiter als ein Plakat.« »Betreibt die Ukraine also Kriegspropaganda?«, fragt Christoph Koopmann in der SZ. »Auf jeden Fall«, sagt Katharina Kleinen-von Königslöw.

Und was macht das mit uns, die wir aufgerufen sind, zu beobachten und zu kontrollieren, wie die Bilder des Krieges unsere Meinungen und Verhaltensweisen beeinflusst? Was macht es mit den Kindern, wenn es (Berged.Ztg. 26.3.2022) heißt: »Bergedorfer Grundschüler laufen gegen Putin«?
»Wir brauchen Vermittlung. Gewalt gegen Gewalt funktioniert nicht.«, sagt Alexander Kluge. Der russische Regisseur und Autor Waleri Panjuschkin (SZ v. 23.3.22, »Ich bin ein Ungeheuer«) erinnert an Tolstois Roman »Krieg und Frieden« und denkt über seine Schuld am Krieg nach. Heißt es doch dort: Ein derart riesiges Ungemach wie der Krieg könne nicht durch den Willen eines einzelnen Menschen beginnen, [...] da müssen auch die Generäle gehorchen, die Soldaten dürfen nicht davonlaufen, [...] Damit es zum Krieg kommt muss sich der Wille Tausender Menschen summieren. – Panjuschkin fragt: Was habe ich falsch gemacht? Dass ich Steuern zahlte, von denen Waffen hergestellt wurden? Dass ich mit meinen Kindern beim Reiten war, anstatt an einer oppositionellen Kundgebung teilzunehmen?

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